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Enricos Bahnabenteuer

Enricos Bahnabenteuer

Enrico fühlte sich selig-beschwingt. Seine prekäre Lebenslage schien ihm nach dem Besuch auf dem städtischen JobCenter geklärt, abgeheftet, bürokratisch verstaut. Alles hatte nun wieder seine demokratische Ordnung, er war endlich wieder ein gewissenhaft registrierter, staatlich anerkannter HIV-Empfänger, in den offiziellen Arbeitslosenstatistiken aufgeführt und von Rechts wegen zum Empfang einer monatlichen Unterhaltszahlung berechtigt. Die Gesellschaft hatte ihn sozusagen rehabilitiert, ihm vom Stigma des niedrig gesinnten „Schwarzarbeiters“ und „Sozialschmarotzers“ befreit und erneut einen bescheidenen Platz in ihrer Mitte zugewiesen. Die ständig bohrende und zermürbende Existenzangst, die seine Seele seit so langer Zeit zu Boden gedrückt hatte, wog nun plötzlich nur noch halb so schwer. Die Höhe des ihm gewährten Arbeitslosengeldes II dünkte ihm zwar zugegebenermaßen recht bescheiden bemessen, aber mit etwas Sparsamkeit würde er es schon schaffen, sein Leben von nun an zu meistern. Er brauchte ja wirklich nicht viel, um zufrieden zu sein.

Die Sonne brannte wie im heißesten Sommer, dabei war es schon Mitte September. So schlecht, wie man es in den Nachrichten immer darstellte, war die Erderwärmung eigentlich gar nicht, ging es ihm durch den Kopf, wenigstens nicht für so kleinen Leute wie er einer war. Man sparte dadurch enorm an Heizkosten und nach Urlaubsreisen in ferne heiße Länder brauchte man sich auch nicht mehr zu sehnen, wenn man nicht gerade pädophil veranlagt war, denn für den subtropischen Badespaß reichte es aus, wenn man einen Tagesausflug zu einem der zahlreichen Freibäder der Umgebung machte. Apropos Freibad, sollte er nicht das hochsommerliche Wetter nutzen, um einen Abstecher zum Stadtteich zu machen? Zum Baden- oder Gondelngehen verspürte er zwar keine Lust, aber den Nachmittag bei ein paar frisch gezapften und gut gekühlten Bierchen auf der Strandcafé-Esplanade zu verbringen, wieder einmal so richtig auszuspannen, zu faulenzen und frische Luft zu schnuppern, ehe man wieder in den erschöpfenden Mief und Altagstrott der Kleinstadt versank, das erschien ihm eine wahrhaft glänzende Idee. Es war jetzt gerade einmal kurz nach zehn, der ganze liebe lange Tag lag noch vor ihm und wartete nur darauf, genossen zu werden. Trübsal, weiche von mir, schreite hurtig voran, verachteter Lumpenprolet, und labe dich an dem wenigen, das man dir noch nicht genommen hat, nämlich deiner Freizeit! Mit schnellen Schritten eilte er dem Stadtrand zu, und es dauerte auch nicht lange, bis er an seinem Urlaubsreiseziel gelandet war.

Nachdem er seiner durstigen Kehle mehrere halbe Liter Pils genehmigt hatte, ging er doch noch Gondeln und lustwandelte im Anschluß daran kreuz und quer auf den schattigen Uferpfaden einher, ehe er sich in ein nahes Gebüsch verkroch, um ein gutes Stündchen genußvoll zu schlummern. Dann gings nochmals zum Strandcafé, wo sich bereits eine lustige Runde von Trinkbrüdern versammelt hatte, mit denen er bald angeregt palaverte. Es dauerte nicht lange, bis er sich bei Ballermann auf Mallorca wähnte, doch zu ostdeutsch angemessenen Zechpreisen. Er bemühte sich redlich, einen klaren Kopf zu behalten, denn er durfte keinesfalls den letzten Zug in seine Heimatstadt verpassen, wollte er die Nacht über nicht an fremden Gestaden schiffbrüchig gehen.

Leicht schwankenden Schrittes machte er sich daher rechtzeitig auf den Rückweg zum Bahhof, eine Flasche Bier für die Heimfahrt vorsorglich im Gepäck. Da er sich immer noch auf seinem eingebildeten Urlaubstrip befand, kam er nur langsam scheppernd voran. Doch Seemann, laß das Träumen... . Schon aus hundert Meter Entfernung vom Bahnhof nahm er wahr, daß sein Regionalzug bereits auf den Gleisen zur Abfahrt bereit stand. Erschreckt schaute er auf seine Uhr, ehe er zu einem letzten Sprint ausholte. In aller Eile durchraste er das Bahnhofsgebäude und den Tunnel bis zur Plattform 8. Als er die Treppen zum Bahnsteig hinaufbrauste, wurde bereits die Abfahrt des Zuges durchgesagt. Eine letzte Kraftanstrengung – und er war in Geborgenheit. Ein gellender Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Bundesbahn war wie gewöhnlich auf die Minute pünktlich, wenn es darum ging, säumigen Kunden einen Denkzettel zu verpassen.

Verwundert bemerkte Enrico, daß er sich in einem Abteil erster Klasse befand, denn die wurden eigentlich gar nicht auf der kleinen Nebenstrecke benutzt. Doch war das Unternehmen ja seit einigen Jahren zielstrebig auf dem Weg zur Börse, wie jedermann wußte, da mochte es schon möglich sein, daß man neuerdings auch auf einer Kleckerstrecke wie der da.... Doch einen zweiten Nobelwaggon hätte man sich eigentlich sparen können, denn das halbe Dutzend Mittelständischer, das in seiner Stadt existierte, würde doch wohl nie auf den Gedanken kommen, … . Himmeldonnerwetter! Auch ein Speisewagen mit Servicepersonal hatte sich buchstäblich in seine heimatlichen Berge verlaufen! Das konnte doch unmöglich mit rechten Dingen zugehen, oder hatte etwa die Bahn ein Jubiläum und wollte ein kleines Dankeschön an seine Kunden los... ?

Vor Erstaunen hätte er beinahe den Schaffner über den Haufen gerannt, der soeben, aus dem Vorderwagen kommend, um die Ecke gebogen kam, und ihn sogleich mit ernster Miene aufforderte, seinen Fahrschein vorzuweisen. Enrico begann sogleich aufgeregt in seinem Hirschröhrbeutel zu kramen, den er seit seligen DDR-Zeiten stets auf Reisen benutzte. Doch zunächst gelang es ihm nur, seine Bierflasche zu Tage zu fördern. Erst als der bärbeißige Bahnbeamte immer unruhiger wurde und bereits eine Kollegin zu seiner Verstärkung eingetroffen war, fiel ihm ein, daß er am Morgen eine Zwei-Zonen-Tageskarte gelöst und diese in sein Portemonnaie gesteckt hatte.

„Entschuldigung, das haben wir gleich“, lächelte Enrico nun siegessicher und reichte dem gestrengen grauhaarigen Herrn seinen zerknüllten Fahrschein. Dieser musterte ihn jedoch nur kurz und schüttelte dann mißbilligend den Kopf. Ehe er den Schein an seine Kollegin weiterreichte, wandte er sich gefährlich knurrend wieder Enrico zu:
„Schau an. Da haben wir wieder einmal einen Schwarzfahrer auf frischer Tat ertappt. Na, das wird für Sie diesmal teuer werden, das kann ich Ihnen versprechen. Das macht dann also für Sie einen Fahrschein für den Interregio plus 50 Euro Strafe. Wenn Sie sofort bezahlen, können sie sich eine Menge Ärger ersparen.“
„Aber ich will doch nur zurück nach A., das ist doch der Zug nach da, nicht wahr?“, wagte Enrico, ganz plötzlich wieder vollkommen ernüchtert, einzuwenden.
„Immer wieder die selbe Masche bei dem Gesindel“, bemerkte der Bahnbeamte zynisch, sich kopfschüttelnd an seine Komplizin wendend. Er betrachtete Enrico nun eingehend von oben bis unten. Daß sein Gegenüber augenscheinlich von einfacher Herkunft und schwächlichem Körperbau war, schien seine Gereiztheit noch zu mehren.
„Mit solchen Tricks kommen Sie bei uns nicht durch! Sie befinden sich hier im Interregio nach München. Also, wollen Sie nun zahlen oder nicht!“
„Warum sollte ich denn zahlen, ich will doch nur nach A. und nicht in ihr belämmertes Bayernland“, erwiderte nun Enrico, ebenfalls eine Idee schärfer und von plötzlichem Trotz gepackt. „Ich möchte sofort an der nächsten Station aussteigen. Und das mit dem 'Gesindel', das möchte ich doch gefälligst überhört haben.“
„Der Baazi gloabt wohl, mir sei närrisch?“, begann sich da der Beamte erregt zu ereifern, dabei plötzlich ins bayerische Dialekt verfallend. Augenscheinlich war sein Bahnerstolz soeben eklatant verletzt worden.
„Nix is, g'zahlt wird, oder wir alarmiern die Gendamrie! Nu gebns schoa ihre Papiere raus, aber e weng dalli.“
In einem solchen herablassenden Ton wollte Enrico aber keinesfalls mit sich reden lassen, deshalb ging er in Abwehrstellung, als ihm der Zugführer immer enger auf den Pelz zu rücken suchte.
„Nimm deine dreckigen Pfoten von meiner Jacke, Öler“, entfuhr es ihm grollend, reflektiv in den soeben hinter sich gelassenen Speisewagen zurücktaumelnd, wo einige vornehme Bordgäste, die gerade beim Dinner saßen, betroffen die Köpfe schüttelten. Wahrscheinlich hatten sie so etwas in Ostdeutschland noch nicht erlebt. Ein Typ mit Lederjacke und Stasi-Fresse eilte herbei, stellte sich als ehrenamtlicher Polizeihelfer vor und bot dem immer aggressiver agierenden bayerischen Beamten seine Hilfe an, den ans Fenster gedrängten und vor Schreck sprachlos gewordenen Enrico drohend, er solle gefälligst seine Ausweispapiere vorweisen und es ja nicht länger wagen, Widerstand zu leisten. Schließlich gäbe es hier genügend Zeugen für sein schändliches Tun. Diese Verbalattacke entlockte den wiederkäuenden Dinnergästen ein beifälliges Nicken, schließlich hatten sie ja ihre Fahrt teuer bezahlt. Geschockt von der gegen ihn praktizierten Niedertracht, gab Enrico nun auch den letzten kleinen Funken Widerstand auf, der ihm zugesprochen worden war. Der Schaffner langte geschwind nach seiner Tasche und fand darin nach kurzer Inspektion auch seinen Ausweis.
„Den werde ich einbehalten, bis ich Sie der Bahnpolizei in Plauen übergeben habe,“ verkündete er drohend, nun wieder des Hochdeutschen mächtig. „Dazu habe ich als Bordchef das Recht.“
„Geben Sie mir bitte meinen Ausweis wieder, den brauch ich doch“, fing nun Enrico tief gedemütigt an zu schluchzen. „Ich habe Ihnen doch wirklich nichts getan.“
Er wagte es während seines Flehens, seine Hände vorzustrecken, was der Freizeitpolizist als tätliche Handlung interpretierte, die es unverzüglich zu unterbinden galt. Er drückte Enrico mit seinen knapp hundert Kilo so heftig an die Wand, daß dieser kaum noch fähig war, Luft zu holen. Er gab keinen Mucks mehr von sich, denn gegen diese „Räuberbande“ hatte er keine Chance.
Beim nächsten Halt des Zuges stürzten sich drei Bahnpolizisten ins Abteil, die vom Zugführer alarmiert worden waren. Als sie den immer noch unter Schock stehenden Enrico zu Gesicht bekamen, wurden sie von Mitleid gepackt, einer Gefühlsregung, die bei Polizisten in seltenen Fällen bis heute noch gelegentlich anzutreffen ist. Sie begnügten sich damit, Enricos Daten nochmals sorgfältig zu prüfen, verzichteten aber auf eine Anzeige, die für unseren traurigen Helden sicherlich recht teuer zu stehen gekommen wäre. Da es erst wieder am nächsten Morgen eine Verbindung nach A. gab, zeigten sie Enrico noch den Weg zum Park, wo er die Nacht, die glücklicherweise erderwärmungsbedingt nicht allzu kalt war, zubringen mußte.

Aus: Stefan Mösch: Enricos sozialverträglicher Abstieg - Eine Hartz IV-Tragödie aus dem deutschen Osten. (unveröffenticht).

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