Vom Mühlenhof, der im Tal unten bereits von einigen großen Walnußbäumen verdeckt wurde, hallte noch immer das Singen und Lachen der Zurückgebliebenen zu ihm hinauf. Hin und wieder grölte auch einer übermütig; das mußte Hannes sein, der es bei keiner Feier lassen konnte, sich zu betrinken, sobald sein mürrisch dreinblickendes Weib sich mit seinen beiden Töchtern nach Hause begeben hatte, jedesmal mit der bitteren Mahnung auf den Lippen, doch recht bald nachzukommen und nicht wieder die Kammertür zur Magd mit der zum ehelichen Gemach zu verwechseln.
Es tat ihm leid, daß er nicht länger hatte bleiben können, obwohl ihm das spendierte reichliche Essen und die schäumenden Krüge Bier so herrlich gemundet hatten. Wie gerne hätte er noch mit Florian und Bastel, seinen beiden Begleitern am Baß und auf der Trommel, ein paar zünftige Weisen zum besten gegeben, um dann anschließend mit einer der jungen Mägde oder gar mit dem hübschen Müllerstöchterlein zu plaudern und sich bei passender Gelegenheit gemeinsam in die nahen Büsche zu schlagen, um der Holden ein Küßchen oder sogar ein kleines Versprechen zu entlocken. Kommt Zeit, kommt Rat, tröstete er sich und war sich sicher, das nächste Mal besser davonzukommen.
Heisassa, ihr Leit tanzt alle
Kumm, mir trinken noch paar Schalle,
Madel gab mer noch enn Kuß
Eh ich noort ehaam gieh muß.
Ja, das wars, das wäre ein wirklich prächtiger Kehrreim für das Liedchen, das ihm so gar nicht aus den Kopf gehen wollte. Die Melodie dazu war zwar etwas schwermütig und geheimnisvoll, aber das machte vielleicht gerade den eigentümlichen Reiz des Stückes aus. Flugs nahm er seine Fiedel und stimmte, leise dazu trällernd, ein paar Takte an. Da würden die Burschen und Mädchen leuchtende Augen bekommen, wenn er ihnen sein neues Lied zur nächsten Kirchweihfeier völlig unverhofft präsentieren würde. Er hatte eben wirklich eine poetische Ader, wie ihm sein alter Schulmeister und Kantor schon früher immer wieder versichert hatte. Dieser hatte ihm dann auch die ersten Geigengriffe auf seinem Instrument beigebracht.
In den Sträuchern, die den Weg säumten, raschelte es leise. Er hörte auf zu spielen und lauschte, konnte aber niemanden entdecken. Sicherlich hatte er nur die Ruhe irgendeines Kleingetiers gestört, das wie er die schöne laue Nacht mit all ihren süßen Düften genießen wollte. Alles blieb ruhig; nur die Johanneswürmchen tauchten das dunkle Kratzbeergestrüpp in ein schauriges, gespenstisch schimmerndes Licht.
Komm mit rah un bring de Ruh nei
Sing paar Lieder, daß mir fruh sei
Un vergassen unre Ploch
Tanz mer bis zum nächsten Toch.
Das hätte er heute Nacht am liebsten auch gemacht, doch mußte er sich gerade dieses Mal sputen, weil er unbedingt bis zum frühen Morgen in sein Dorf zurückkehren wollte, um noch etwas ausschlafen zu können, bevor er sich mit dem griesgrämigen Meister zum Kirchgang bequemen mußte. Und einen Tag später, da sollte es schon ganz zeitig in der Frühe ans Rackern gehen, weil angeblich ganz besonders dringende und schwere Arbeit zu erledigen war. Dann könnten gewisse junge Leute mal zeigen, ob sie auch noch etwas Mumm in den Knochen hätten, besonders solche, die zur Johannisnacht unbedingt ausgehen müßten, um sich zu betrinken und allen möglichen gottlosen Mummenschanz zu treiben. So etwas hätte es früher nicht gegeben, hatte sein mürrischer Gevatter noch boshaft bemerkt, doch er wäre eben nur ein einfacher, redlicher und gottesfürchtiger Mann und bloß der belesene Herr Pfarrer könne wissen, wieviel Freiheit man der Jugend heutzutage gestatten dürfe. Der Alte war wirklich ein mißlauniger Grobian, der zudem von Musik und Gesang nicht die leiseste Ahnung hatte und ihm mit seinen Grillen das bißchen Lebensfreude, das man sich noch ab und zu vergönnte, so richtig vergällen konnte. Am liebsten wäre er singend und fiedelnd als fahrender Geselle durch die weite Welt gezogen. Stattdessen bekam er im Dorf immer wieder zu hören, wie dankbar er doch sein müsse, als Tischlergeselle direkt im Ort Arbeit gefunden zu haben. Das hätte er nur dem seligen Andenken an seinen Vater zu verdanken und überhaupt, ein anderer hätte sich schon längst mit der Tochter des Tischlermeisters liiert, auch wenn die eine ziemlich sauertöpfische Jungfer war.
Ner aans von de süßen gunge.
Den iech schu manchs Lied gesunge
Ner su’n Madel will ich habn
Ihr mei ganzes Laabn hiegaabn.
Ja, die bildhübsche Tochter des Müllers, die wäre so ein Mädchen, das er sich auch recht gut als sein Bräutchen vorstellen könnte, doch deren Vater hatte mit ihr wohl ganz andere Pläne, als sie gerade ihm, dem nichtsnutzigen und übermütigen Habenichts von Musikanten zu überlassen, um sie dann beide seinen Lebtag lang durchzufüttern.
Am Abend hatte er zum Johannisfeuer recht lange mit einigen Freunden vor den Flammen gesessen, wo sie sich gegenseitig jede Menge alter und neuer Geschichten erzählt hatten. Besonders die etwas gruseligen und geheimnisvollen mochte er ganz besonders. Da ging es um verborgene Schätze, die man gerade in einer solchen Nacht wie heute heben konnte, aber auch um schaurige Moritaten und Räuberpistolen, die sich in fremden Ländern oder auch ganz in der Nähe irgendwann einmal zugetragen haben sollten.
Bei allen diesen Gedanken und Geträller hatte Niklas ganz vergessen, daß er sich doch beeilen mußte, wenn er bis zum Morgengrauen nach Hause kommen wollte. Er klemmte also geschwind seine Fiedel wieder unter den Arm und eilte mit weit ausholenden Schritten den steil den Berg hinaufführenden Weg entlang. Die letzten Häuschen des Dörfchens Bärenheide lagen schon weit hinter ihm, auch den einsamen idyllisch gelegenen Friedhof mit seiner kleinen Friedhofskapelle hatte er längst hinter sich gelassen, und nur der hell strahlende Mond wies ihm nun den Weg durch Wald und Flur. Die aufkommende leichte warme Brise lud dazu ein, sich auf einem Plätzchen Moos am Waldrande niederzulassen, um in die Nacht zu lauschen, den Mond zu betrachten und sich sentimentalen Gefühlen hinzugeben. Vielleicht sollte er sich einfach hier im weichen Gras einen gemütlichen Platz zum Schlafen suchen, das wäre sicher viel angenehmer als noch weiter drei bis vier Stunden durch die Nacht zu rennen. Vielleicht könnte er ja wenigstens etwas abkürzen und quer über den Berg durch den Wald ins Dorf laufen. Dadurch sparte er bestimmt eine Stunde Weges und der warm leuchtende Mond würde ihm sicher genügend Licht spenden, damit er sich nicht im Walde verirrte. Gerade hier ging ein kleiner Wildpfad ab, der ihm früher noch nie aufgefallen war. Ohne lange zu überlegen, nutzte er die Gelegenheit und schlug sich quer durch die Büsche, immer im Zickzack den Berg hinauf, um dann von der Höhe aus ins Nachbartal zu gelangen. Viel schief gehen konnte dabei eigentlich nicht, höchstens, daß er etwas weiter oben auf die Straße gelangen würde.
Schon wieder ging ihm eine der Geschichten, die am Feuer erzählt worden waren, durch den Kopf. Ja, man hatte sogar auf ihn gedeutet und ihn augenzwinkernd ermahnt, auf dem Heimweg ja recht gut aufzupassen und nicht vom rechten Weg abzuweichen, sonst könnte es ihm genauso ergehen, wie dem alten Spielmann damals vor vielen Jahren. Dieser soll nach der Legende auf seinem Nachhauseweg von einem Feste in eine Bärenfalle gestürzt sein, in der schon ein rasender Meister Petz gefangen saß. Nur durch ständiges Fiedeln bis in den Morgen konnte er das Untier davon abhalten, ihn mit Haut und Haar aufzufressen und so sein Leben retten. Nun ja, eine Fiedel hatte er ebenfalls bei sich - und außerdem gab es schon lange Jahre keine Bären in dieser Gegend mehr. Da war es schon viel eher ratsam, sich vor irgendwelchen Sumpfmänneln oder Moosweiblein in Acht zu nehmen, die einen in die Irre oder in irgendein tiefes Sumpfloch locken wollten. Ganz eiskalt lief es ihm über den Rücken, kein Wunder bei all den schaurigen Phantasiebildern, die ihm durch den Kopf gingen. Vielleicht hätte er doch auf dem sicheren Hauptweg bleiben sollen, der das Dörfchen Bärenheide mit Schortau verband, und auf dem früher, ebenfalls in grauer Vorzeit, die Pestkarren mit den Toten zum Friedhof seines Dorfes gekarrt worden waren.
Mit einem Mal war es um ihn herum stockdunkel geworden, da eine leichte Brise ganz plötzlich eine Wolke vor den Mond geschoben hatte. Um nicht über die Wurzeln und Äste zu stolpern, die den winzigen Pfad zur Genüge bedeckten, setzte er sich nieder, um so lange zu warten, bis der Mond wieder zum Vorschein käme. Außerdem glaubte er, auch nicht mehr genau zu wissen, wo er sich eigentlich befand. Normalerweise hätte er schon längst den Höhenkamm erreichen müssen, um von dort auf kürzesten Weg ins Tal hinabzusteigen. Es war schon wie verflixt, war er doch früher häufig in dieser Gegend mit der Familie oder Freunden Pilzesuchen gewesen. Doch nachts sieht eben alles ganz anders aus als bei Tage. Wenn nur der Mond bald wieder aus seinem Versteck hervorgekrochen käme. Doch das kleine Wölkchen dort oben wollte ihn wohl zum Narren halten und versperrte ihm weiterhin die Sicht. Es nutzte eben alles nichts, er mußte sich einfach noch etwas gedulden, ehe er seinen Heimweg fortsetzen konnte.
2
Um ihn herum herrschte jetzt auf einmal absolute Stille, so daß ihm sein ängstliches Atemholen wie das laute Fauchen des Blasebalgs beim Dorfschmied und das wilde Pochen seines Herzens wie das dröhnende Hämmern des Erzhammers im Dorf unten am Bach vorkam. Selbst der leichte Wind, der eben noch sanft in den Bäumen geraschelt hatte, hatte sich anscheinend zur Ruhe begeben. Es kam ihm vor, als sei soeben der Lauf der Zeit von einer unsichtbaren Hand plötzlich angehalten worden. Er fühlte sich von einer unbestimmten Angst ergriffen, es war ihm, als wolle ihn jemand mit sich fortreißen, heraus aus seiner kleinen beschränkten, aber überschaubaren Welt, hinein in eine andere, von der er sich zwar wie magisch angezogen fühlte, vor der er aber gleichzeitig instinktiv zurückschreckte.
Er holte tief Atem und versuchte sich wieder zu fassen. Nur nicht den Verstand verlieren, Niklas, redete er sich selber Mut zu, das kommt doch alles nur von diesen Spukgeschichten, die du dir heute Abend angehört hast. Morgen wirst du über all das, was dir hier zugestoßen ist, lachen.
Um sich wieder etwas Mut zu machen, nahm er seine Fiedel in die Hand und versuchte, anfangs noch ganz zaghaft, dann langsam schneller und virtuoser werdend, eine weitere Strophe für sein neues Lied zu finden. Ohne daß er wußte, wie es ihm geschah, fühlte er sich auf einmal frei und beschwingt und drehte sich, wie von unsichtbaren Schwingen getragen, ganz locker und leicht im Kreise. Ein tiefes, noch nie in dieser Deutlichkeit gespürtes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt, das all seine tiefsten Sehnsüchte, aber auch alle Geheimnisse, Schmerzen und Ängste, die er tief in seiner Seele barg, zu beinhalten schien. Wie berauscht ließ er den Bogen über die Saiten seines Instrumentes gleiten und begann zu singen. Seine Lippen formten Worte, die ihm bis dahin fremd gewesen waren.
Deine Zauberschwingen spür ich
Laß uns tanzen, heiß, begierlich
Eng umschlungen, unbeschwert
Augenblick der ewig währt.
Von der wehmütig-sehnsüchtigen Melodie ganz ergriffen, die sich aus den Tiefen seiner Seele wunderschön und voller Sehnsucht ergoß, drehte er sich im ausgelassenen Tanz unter den dunklen Bäumen des Waldes dahin. Erst nach einer geraumen Weile konnte er sich aus diesem Zauberreigen lösen, um sich etwas zu verschnaufen. Seine Augen hatten sich inzwischen gut an die Dunkelheit des Waldes gewöhnt, und auf einmal glaubte er, ein fernes Licht zwischen den dichten Baumstämmen wahrzunehmen. Sollte er soweit vom Wege abgekommen sein, daß er am entlegenen Forsthaus herausgekommen war? Eilig näherte er sich dem flackernden Licht, das sich als ein Feuer entpuppte, um das sich noch einige Gestalten leise lachend und flüsternd versammelt waren. Der flackernde Schein des Feuers badete die kleine Gruppe in einem warmen Licht, das ihre Gesichter fremdländisch-schön aufleuchten ließ.
Es waren etwa ein Dutzend Männer und Frauen, die sich im Kreise niedergelassen hatten, einige Kinder lagen in Decken gehüllt etwas abseits und schliefen, ein Karren, auf dem sie anscheinend ihr gesamtes Gut geladen hatten, stand abseits im Dunkel, ein Esel war an einer nahen Tanne angepflockt und schaute neugierig auf den späten Ankömmling. Als hätte man ihn bereits erwartet, winkte man ihm einladend zu, doch in ihrer Mitte Platz zu nehmen. Niklas vermutete, daß es sich um Vagabunden, Zigeuner oder irgendwelche heimatlosen Landstreicher handeln mußte. Ihre farbigen langen Gewänder deuteten darauf hin, daß sie aus einem fernen Lande stammten. Er hatte zwar selbst noch nie Zigeuner gesehen, aber genau so hatte er sie sich nach den Erzählungen der Alten im Dorf vorgestellt. Die Leute sagten ihnen viele schlimme Dinge nach, daß sie Heiden seien, sich durch Stehlen, Betteln, Wahrsagen und andere gottlose Dinge ernährten, anstatt einem ehrlichen Handwerk nachzugehen, aber auch, daß sie ein musikalisches Völkchen seien. Auch sein Meister beschimpfte ihn zuweilen als Zigeuner und Vagabunden, wenn er bei der Arbeit träumte oder er es zum Feierabend nicht erwarten konnte, die Werkstattür hinter sich zuzuschlagen, um ein paar Takte auf seiner geliebten Fiedel zu spielen.
Anscheinend hatte er ziemlich lange mit offenem Munde so herumgestanden, denn auf einmal stand ein junges Mädchen, die ihr dichtes rabenschwarzes Haar offen trug, auf, lief lachend auf ihn zu und zog ihn zu sich und den anderen ans Feuer. Ein alter bärtiger Mann mit langem grauen Haar reichte ihm die Pfeife, aus der er soeben einen tiefen Zug genommen hatte und nickte ihm väterlich lächelnd zu, doch auch einmal zu probieren. Niklas nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog den süßen betäubenden Rauch in seine Lungen. Auch ein großes Füllhorn machte die Runde, das mit einem süßen berauschenden Getränk bis obenhin gefüllt war. Es schmeckte nach Honig, Zimt, exotischen Früchten und nach vielem anderen mehr, ohne daß unser Musikus hätte ausmachen können, was es denn alles im einzelnen sei. Außerdem duftete es nach Weihrauch, Myrrhe und anderen exotischen Kräutern, die man wohl in die Glut des Feuers geworfen hatte. Niklas fühlte sich wie im siebten Himmel, vergessen waren alle seine Sorgen und Leiden, und daß er doch unbedingt bis zum Morgengrauen daheim sein wollte, auch das hatte er schon längst vergessen. Wie gebannt starrte er auf das bildschöne fremde Mädchen, dessen Augen im flackernden Feuerschein geheimnisvoll tief und dunkel glänzten und fühlte eine unbändige Liebe zu ihr aus seinem tiefsten Inneren aufsteigen. Sie mußte wohl seine Gefühle erraten haben, denn sie rückte behutsam näher und legte ihre Hände ganz sachte auf seinen Schoß.
Wie lange sie auf diese Weise dagesessen hatten, wußte Niklas nicht auszumachen. Es kam ihm vor, als wäre es nur ein Augenblick gewesen, doch ein Augenblick, der sich ins Unendliche ausdehnte, ein Augenblick, für den Zeit keine Rolle mehr spielte.
Auf einmal begann der alte Mann, einen langsamen monotonen Rhythmus auf einer kleinen Trommel zu schlagen. Sein Nachbar griff sich eine Schalmei und begleitete ihn dazu. Wie erstaunt war Niklas, als er erkannte, daß es genau dieselbe Melodie war, die ihm den ganzen Abend nicht aus den Kopf hatte gehen wollen. Wie hypnotisiert sprang er auf, packte seine Fiedel, und stimmte in das schaurig-schöne Lied ein.
Heisassa, ihr Leit tanzt alle
Kumm, mir trinken noch paar Schalle,
Madel, gab mer noch enn Kuß
Eh ich noort ehaam gieh muß,
sang unser Musikant immer wieder, seiner Geige noch nie zuvor gehörte wunderbare Töne entlockend.
Kumm mit rah un bring de Ruh nei
Sing paar Lieder, daß mir fruh sei
Un vergassen unre Ploch
Tanz mer bis zum nächsten Toch.
Die anderen erhoben sich nun auch einer nach dem anderen und begannen ausgelassen mit Niklas zu tanzen und zu musizieren, nun wieder vom vollen Mondlicht bestrahlt, das die ganze Szenerie in ein geheimnisvolles Licht tauchte.
Ner aans von de süßen gunge.
Den iech schu manchs Lied gesunge
Ner su’n Madel will ich habn
Ihr mei ganzes Laabn hiegaabn.
Das zauberhafte Mädchen stand nun neben ihm und begleitete ihn auf einer kleinen elfenbeinernen Flöte. Wie ein ganzes herrliches Orchester hallte es durch die Nacht, der Alte erhöhte das Tempo auf seiner Trommel und wie in Trance, nahm auch der Tanz immer ekstatischere Formen an. Alles drehte sich wie in einem Wirbel und Niklas fiedelte auf seiner Teufelsgeige wie ein wild gewordener Paganini. Zu dem wunderschönen Mädchen gewandt, sang er voller Leidenschaft:
Deine Zauberschwingen spür ich
Laß uns tanzen, heiß, begierlich
Eng umschlungen, unbeschwert
Augenblick der ewig währt.
Er legte sein Instrument für einen Moment zur Seite, packte die so heiß Begehrte bei den Armen und wirbelte mit ihr in der Runde, von den anderen musikalisch angefeuert.
Madel, kah dich nimmer lassn
Will de ganze Walt vergassen
Alles moch zer Neige gieh
Augenblick, du bist su schieh.
Das Tanzen, Singen und Musizieren fand kein Ende. Setzten sich die einen erschöpft für einen Weile ans Feuer, dann sprangen schon wieder die nächsten ungestüm auf und nahmen ihren Platz ein. Das Füllhorn ging dabei immer wieder die Runde und schien niemals ein Ende nehmen zu wollen. Niklas nahm noch so manchen süßen Schluck des Zaubertrankes, der ihm jedesmal neue Kraft und Phantasie gab und ihn immer weiter aus der so trist empfundenen Wirklichkeit heraus in eine Märchenwelt der Feen und Kobolde und der entfesselten Sinnen und Begierden entführte. Das Mädchen lag in seinen Armen und er tanzte mit ihr in ein Meer des Vergessens. Der Glanz von tausend Sternen in ihren feuchten Augen entführte ihn in eine ferne, nie gesehene Märchenwelt, das Lachen ihrer Stimme hob ihn in vorher nie geahnte Höhen, aus denen er wie eine Lerche auf eine kunterbunte kitzekleine Welt hinunterblicken konnte, der Geruch ihrer Haare barg die tausend Düfte einer geheimnisvollen, von den Wellen des Ozeans umspülten paradiesische Insel und ihre Lippen ließen ihn orientalische Früchte schmecken, deren Namen ihm völlig unbekannt waren. Als sie dann ihre warmen Hände auf seine Brust legte, da war es um ihn geschehen. Seine Gefühle nahmen Formen an, die sich nicht mehr in Worte fassen lassen.
Seine Liebste eng umschlungen in seinen Armen haltend, fiel er schließlich in einen tiefen Schlaf. Noch im Traume währte das orgiastische Fest fort und betäubte alle seine Sinnen, bis er von den süßen Klängen wie ein Blatt vom Wirbelwind fortgerissen wurde, fortgespült aus seiner kleinen begrenzten Welt in eine neue, die unfaßbar und unbeschreibbar war.
3
Erst die Strahlen der Morgensonne weckten Niklas aus seinem bleiernen Schlaf. Wie erstaunt war er, als er bemerkte, daß er völlig alleine auf einer Waldlichtung lag. Selbst vom nächtlichen Lagerfeuer war nichts mehr zu entdecken. Nur seine Fiedel fand er, in eine filigran verzierte lederne Hülle gelegt, neben seinem Haupte. Er kroch aus der wollenen Decke, mit der ihn das unbekannte Mädchen zugedeckt hatte, und inspizierte die nähere Umgebung, ohne jedoch auch nur die leiseste Spur von den Zigeunern finden zu können. Auch sein Rufen war umsonst und scheuchte nur die Vögel um ihn herum auf. Niedergeschlagen wankte er zu seinem Ruheplatz zurück. Den Tränen nahe, griff er nach seiner Fiedel. Die Hülle fühlte sich ungewöhnlich schwer an, und als er neugierig hineinschaute, fand er eine große Menge güldener Taler darinnen, die ihn seine verschollenen Freunde als Geschenk zurückgelassen hatten. Das war gewiß viel mehr Geld, als ihm sein Meister für das ganze Jahr bezahlte, doch für ein Küßchen seines Mädchens hatte er gerne auf das ganze Geld verzichtet. Ganz unten lag noch ein zusammengefaltetes seidenes, rotes Tuch, in der er eine rabenschwarze Locke seiner Geliebten fand. Die Erlebnisse der Nacht waren also kein Traum gewesen. Von Sehnsucht nach ihr überwältigt, ließ er nun seinen Tränen freien Lauf und verfluchte seine Leichtfertigkeit, die Unbekannte nicht einmal nach ihrem Namen, nach ihrem Woher und Wohin gefragt zu haben. Ihm wurde bewußt, daß die Fremden überhaupt nur wenig gesprochen hatten, und wenn, dann hatten sie es in einer fremden Zunge getan. Nur ein einziges kleines Wort hatte er sich merken können; als er sie trunken vor Glück gefragt hatte, wo er sie wiederfinden könne, hatte sie ihm das Wort „Venusberg“ ins Ohr geflüstert. Doch wo dieser Ort zu finden sei, war ihm ein Rätsel.
An einer nahegelegenen Quelle stillte er seinen Durst. Er fühlte sich überhaupt sehr geschwächt nach dieser langen ausschweifenden Nacht und wollte sich nun beeilen, heim in sein Dorf zu kommen. Herr Meister und Frau Meisterin würden dort schon auf ihn lauern und bestimmt hinterhältige Fragen stellen, wo er denn die ganze Nacht über gesteckt habe, was er denn diesmal ausgefressen habe und so fort. Er schwor sich, ihnen kein Wörtchen von seinen ungewöhnlichen Erlebnissen zu erzählen.
Schnell packte er sein Bündel und machte sich auf den Weg. Recht bald konnte er sich im Walde wieder zurecht finden und schon nach einer halben Stunde hatte er den Weg im Tal erreicht. Von hier würde es nur noch eine gute Stunde dauern, bis er daheim sein würde. Wenn er Glück hatte, konnte er sich auch noch ein Stündchen hinlegen, ehe es zum gemeinsamen Kirchgang ging.
Obwohl er nun auf einem Weg wanderte, den er schon unzählige Male gegangen war, kam ihm vieles fremd und verändert vor. An einer Stelle standen auf einmal große Bäume, die die Aussicht ins untere Tal versperrten, an einer anderen hatte er freie Sicht, doch war er sich ganz sicher, erst vor knapp einem Jahr im Schatten einer großen Buche hier eine Rast eingelegt zu haben. Nur ein alter verwitterter Baumstumpf erinnerte daran, daß hier einmal vor langer Zeit ein großer Baum gestanden hatte. Doch wie groß war erst sein Erstaunen, als er zur kleinen Brücke kam, die den Dorfbach überquerte. Längs des Baches erblickte er zwei lange eiserne Schienen, die er so nur aus dem Bergwerk kannte, wo sein Freund Matthes arbeitete. Dort nutzte man solche Schienen, um darauf auf sogenannten ungarischen Hunten das abgebaute Erz und das Geröll bis zum Schachtloch zu schieben, aus dem es dann, durch eine Pferdekoppel angetrieben, in Förderkörben ans Tageslicht gehoben wurde.
Er war noch völlig vertieft in die Betrachtung der seltsamen Schienen, als ihn auf einmal ein fernes Gebrause aufschreckte. Ehe er sich fassen konnte, kam da ein riesiges eisernes Ungetüm auf ihn zugerast und stieß auch noch ein gräuliches Fauchen aus, als wollte es rufen: Geh mir aus dem Weg, du kleiner Knirps! Das tat Niklas schon ganz von alleine. Mit einem Riesensprung rettete er sich in den nahen Straßengraben, von wo aus er beobachtete, wie der feuer- und funkenspeiende Eisenkoloß an ihm vorbeibrauste. Er verschloß die Augen und griff sich an den Kopf. Das alles konnten nur die Nachwirkungen von letzter Nacht sein! Ganz sicher hatte er viel zu viel von diesem Knastertobak geraucht und vom Zaubernektar geschlürft. Bald mußte doch dieser ganze Spuk ein Ende haben. Also nichts wie heim ins Bett und erst mal richtig ausgeschlafen, dann würden sich seine Halluzinationen schon wieder geben.
Auch die nicht übersehbaren Veränderungen im Dorf hielt er für ausgemachte Hirngespinste. Zum Glück war es noch früh, so daß er keinen Menschen begegnete. Gleich mußte er beim Haus des Meisters angekommen sein, und dann nichts wie ins Bett!. Doch welch ein Schreck! Das Haus des Meisters war frisch angestrichen und statt der Werkstatt im Erdgeschoß gab es da ein Schaufenster, in dem alle möglichen Trödelwaren ausgestellt waren. Nun ja, das Schild an der Türe, das ihm vorher übrigens auch niemals aufgefallen war, trug wenigstens den richtigen Namen: „Georgi, Marie“ stand darauf, das war der Name der Tochter seines Meisters.
Ohne lange zu überlegen, klopfte er an die Tür. Heraus kam ein altes Weib, das ihn böse und mißtrauisch musterte. „Bei uns gibt’s nischt zim Frassnhuln, gieh lieber Arbitn, du hergeloffener Krakel.“
Die Alte faselte noch etwas von Überfall und Polizeiholen und schmiß dann energisch die Tür ins Schloß, noch bevor sich Niklas irgendwie erklären konnte. War er nun völlig allein verrückt, oder hatte sich im Laufe einer Nacht durch eine Seuche oder ähnlichem sein ganzen Heimatdorf in einen Narrenstall verwandelt?
Völlig ratlos trottete er in Richtung Kirche. Er ignorierte all die neuen Gebäude, an denen er vorbeigehen mußte. Eines davon konnte er beim besten Willen nicht übersehen. Es war ziemlich groß, scheußlich grau abgeputzt und hatte einen hohen Schornstein. Irgendwas von einer „Brauerei“ war in großen Lettern auf die Hauswand geschrieben.
„Gieht mich alles nischt ah“, murmelte Niklas, „doch Bierdurscht scheine de Leit ja noch immer tichtich ze ham“, und setzte seinen Weg schnurstracks fort. Vor der Kirche würde er sicher einige seiner jungen Freunde treffen, die ihn darüber aufklären konnten, was mit seinem geliebten Schortau innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Da er sich nicht getraute, den Hauptweg zur Kirche zu nehmen, lief er quer über die Wiesen zum nahen Kirchhof, um sich von dort aus von hinten unbemerkt nähern zu können.
Auch die frischen Gräber auf dem Gottesacker gaben ihm viel zu denken. Sollten denn in letzter Zeit so viele Leute gestorben sein? Jeder einzelne Todesfall im Dorf wurde ja meist schon viele Tage vor dem großen Ereignis Anlaß aller möglichen Gerüchte und Vermutungen.
Vor einem alten kleinen Holzkreuz machte er schließlich halt. Das Grab schien schon seit Jahrzehnten nicht mehr gepflegt worden zu sein. Unkraut und wilde Blumen bedeckten das Geviert. Neugierig versuchte er, den schon arg verblichenen Namen des Toten auf dem Kreuz zu entziffern, dessen Schicksal ihm auf einmal ganz nahe ging. „NIKLAS MALTZER“, buchstabierte er mühsam, „sicher e genauso armer Kerl wie iech. Alt geworn is er jedenfalls net, schu mit zwansch hotter de Micke gemacht“. Genauso alt, wie er gerade mal war, ging ihm durch den Kopf. Auf einmal standen ihm die Haare zu Berge. „Niklas – was...???“, stotterte er.
Völlig betäubt und entkräftet ließ er sich neben dem Kreuz zu Boden gleiten. Er schloß die Augen - und das wunderschöne Mädchen erschien ihm wieder und winkte ihm geheimnisvoll-einladend zu.
Als er nach geraumer Zeit die Augen wieder öffnete, stand ein alter gebückter Mann, der sich wackelig an einen Krückstock klammerte, vor ihm. Er schaute ihn neugierigen Blickes an und sagte dann:
“Ja, mei Gung, des war emol e ganz guter Freind von mir. Mit dam hammer dozemol zesamme Musik gemacht. Ja, des warn domols noch Zeitn, iech an dr Trommel ... Des is nu ah schuh wieder fuffzich Gahr har. Ja, de Zeit vergieht, un mer ward net ginger.“
Erst jetzt musterte der Alte Niklas etwas näher. Er bemerkte seine Geige, betrachtete interessiert sein Gesicht und schüttelte dann verblüfft und ungläubig den Kopf. Niklas mußte vor Entsetzen aufschreien. Sollte der Alte da vor ihm wirklich sein alter Freund Bastel sein? Geschwind griff er nach seiner Fiedel und rannte fort, hinaus in Richtung der Wiesen, den verblüfften Alten kopfschüttelnd allein am Grabe zurücklassend.
Erst im Wald hielt Niklas völlig erschöpft in seinem rasenden Lauf inne. Es kehrte zurück zu der Waldlichtung, auf der er seine große Liebe erfahren hatte, von der er nie wieder loskommen würde. Er holte die rabenschwarze Haarlocke heraus und flüsterte „Venusberg“. Dort würde er seine Geliebte wiederfinden. Kurz entschlossen warf er sich seinen Beutel auf den Rücken und marschierte los, weg von seinem Dorf und seiner Heimat, in der er nichts mehr zu suchen hatte, fort in eine neue Welt, die sich nicht mit menschlichen Worten beschreiben läßt.
Dm C / Dm C / Am Em / Cism Fism Cism Fism